VI. Pest und Seuche in
der älteren Literatur
Kaum eine andere Katastrophe artikuliert die
Vorstellung menschlicher Machtlosigkeit und kollektiven Unglücks
so treffend wie die Heimsuchung durch die Pest. Schon in der Antike
begegnen uns Seuchen in der Literatur, maßgebend und musterbildend
schon in der Bibel (etwa Exodus 9, Leviticus 15), bei Thukydides
und Titus Livius, später in mittelalterlichen Legenden, Chroniken
und Versromanen, etwa bei Konrad von Würzburg. Vor allem
die verheerende Pestepidemie Mitte des 14. Jahrhunderts wirkte
sich auf Kunst und Literatur aus. Petrarca (Canzoniere) und Boccaccio
erlebten die Schreckensjahre persönlich; vor diesem Hintergrund
entstand Boccaccios Novellensammlung Il Decamerone - sie ist bis
heute eine der am intensivsten mit der Pest verbundenen literarischen
Quellen geblieben. Von ähnlicher Bekanntheit sind Daniel
Defoes Journal of the plague year (1722) und Alessandro Manzoni
I promissi sposi (1827). Bis in die Gegenwart dienen Pest und
Seuchen als literarische Motive und Handlungsrahmen, drücken
sie wie kaum ein anderes Thema existenzielle Bedrohung und Angst
aus, wie in Albert Camus' La peste (1947).
Weniger bekannt sind heute etliche Bearbeitungen von Stoff und
Motiv der Seuchen, die die deutsche Dichtung und Literatur im
16. und 17. Jahrhundert hervorgebracht hat, etwa von Hans Sachs
und anderen deutschen Meistersängern, in Gedichten von Martin
Opitz und Paul Fleming (Ode über die Pest in Leipzig 1631),
oder in der volkstümlichen Erzählliteratur. Aus dem
reichen Fundus der alten Bibliothek werden einige dieser weniger
bekannte Stücke aus dem großen Strom der frühneuzeitlichen
Vers- und Erzählliteratur gezeigt.