09. Oktober 2024
Wer im Onlinekatalog (OPAC) der HAB nach Heinrich Spiero sucht, erhält 22 Treffer (Stand 18.07.2024). Sechs Titel verfasste Spiero, darunter Biografien von Fontane, Gerhart Hauptmann und Julius Rodenberg; 15 Titel gab er heraus, u. a. die Briefe Detlevs von Liliencron, eine Festschrift zum 100. Geburtstag Wilhelm Raabes oder das Römische Tagebuch von Fanny Lewald. Der letzte Treffer jedoch erschien 1802 und damit weit vor Spieros Geburt: Luise - Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen von Johann Heinrich Voß. Was verbindet diesen Titel mit Heinrich Spiero? Des Rätsels Lösung offenbart ein Blick in den vorderen Buchspiegel, wo prominent ein Exlibris prangt.
Ein von Goethe- und Bismarck-Büsten flankierter Treppenaufgang führt auf einen Rundbogen zu, über dem von zwei Hermen-Atlanten getragen, die Lettern SPIERO zu lesen sind. Die Umschrift macht die Provenienz noch deutlicher: Ex Libris qui amati sunt ab Henrico utr. jur. dre. mercatore et ab uxore sua Olga magistra. Oder, frei übersetzt: Aus der geliebten Bibliothek des Heinrich, Doktor beider Rechte und Kaufmann, und seiner Frau Olga, Lehrerin.
Exlibris sind häufig sprechende Darstellungen voller Anspielungen und Symbolik. So verweisen die beiden Hermen-Atlanten auf ein 1906 erschienenes Werk von Heinrich Spiero: „Hermen. Essays und Studien“. Goethe und Bismarck erzählen vom Selbstverständnis der Spieros als Teil der deutschen (Kultur-)Nation. Das im Hintergrund angedeutete Meer mag von der Hamburger Lebensstation berichten.
Doch wer waren Olga und Heinrich Spiero, die ihre Bücher so sehr liebten?
Heinrich Spiero, am 24. März 1876 in Königsberg (heute Kaliningrad) geboren, war ein deutscher Schriftsteller, Publizist und Literaturwissenschaftler. Er studierte Germanistik, Jura und Geschichte an den Universitäten in Berlin, Freiburg i.B., Leipzig und Lyon. 1897 wurde er zum Dr. jur. promoviert, 1931 verlieh ihm die Universität Göttingen die Ehrendoktorwürde. Am 6. November 1900 gaben sich Heinrich Spiero und die am 9. Juli 1877 in Breslau (heute Wrocław, Polen) geborene Olga Karoline Jolowicz das Ja-Wort. Das Paar lebte in Hamburg, Spiero arbeitete als Kaufmann im väterlichen internationalen Import-Export Betrieb. Aus der Ehe gingen vier Töchter hervor: Bertha Sabine, Josepha, Ursula und Christiane. Von 1911 bis 1914 war Spiero Dozent an der Hamburger Kunsthochschule. Im Ersten Weltkrieg war er im Rang eines Majors unter Walther Rathenau an der Organisation der Kriegswirtschaft beteiligt. Nach Kriegsende ließ er sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder. Er wirkte u. a. als Schriftleiter am Hermann Klemm-Verlag und war Dozent für Literaturgeschichte an der Berliner Schleiermacher-Hochschule. Er verfasste – teils gemeinsam mit Ehefrau Olga – zahlreiche literaturhistorische Werke. Seine Autobiografie mit dem prophetisch anmutenden Titel Schicksal und Anteil – ein Lebensweg in deutscher Wendezeit erschien 1929 und 1931 das „Jedermanns Lexikon“.
Obwohl 1894 protestantisch getauft, war Spiero als sog. „Nichtarischer Christ“ der antisemitischen Verfolgung durch das NS-Regime ausgesetzt und wurde mehrfach verhaftet. Seit 1935 war er mit einem Schreib- und Publikationsverbot belegt. Ab September desselben Jahres bis zu seinem erzwungenen Rücktritt 1937 war Spiero Vorsitzender des Reichsverbands christlich-deutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung e.V. Die Vereinigung unterstützte bis zu ihrer Zwangsauflösung 1939 von antisemitischer Verfolgung Betroffene u. a. bei der Emigration und begegnete der wachsenden sozialen Isolation durch kulturelle Veranstaltungen. Mit dem Büro Heinrich Spiero gründete Spiero 1937 eine eigene Hilfsorganisation, die zwei Jahre später verboten wurde. 1939 erhielt er einen Ruf an die Universität von Delaware in New Jersey (USA), die Professur für Neuere Literaturgeschichte konnte er aufgrund des Kriegsbeginns nicht antreten. Die drohende Deportation des Ehepaars Spiero konnte 1943 durch ihren Schwiegersohn knapp verhindert werden. Heinrich und Olga Spiero überlebten die nationalsozialistische Herrschaft im Berliner Untergrund. Nach der Befreiung lehrte Spiero bis zu seinem Tod am 8. März 1947 an der Volkshochschule Berlin-Schöneberg. Olga Spiero, die ihre Entschädigungsrente erst durch eine Klage erwirken musste, verstarb am 14. November 1960, sie wurde an der Seite ihres Mannes auf dem Alten Zwölf-Apostel-Kirchhof in Berlin-Schöneberg beigesetzt.
Der Umfang der Spiero‘schen Privatbibliothek wird auf etwa 20.000 Bände geschätzt. Durch das Berufsverbot in existenzbedrohliche finanzielle Not gedrängt, musste Spiero zwischen 1935 und 1937 über 250 Blätter seiner umfangreichen Autographensammlung verauktionieren. Ab 1938 sah er sich gezwungen, große Teile seines Buchbestands zu veräußern, da ihm nach dem Ausschluss aus der „Reichsschrifttumskammer“ und wegen des stetig zunehmenden Verfolgungsdrucks jegliche Verdienstmöglichkeiten verwehrt waren. Im September 1942 mussten die Spieros ihre Wohnung in der Friedenauer Odenwaldstraße räumen und in eine Einzimmerwohnung in einem sog. „Judenhaus“ am Viktoria-Luise-Platz umziehen. In Anbetracht der Zwangsräumung war das Ehepaar Spiero gezwungen, Bücher und Mobiliar größtenteils zu verschenken oder weit unter Wert zu veräußern. Ein Bombentreffer auf das Haus am Viktoria-Luise-Platz zerstörte 1943 das letzte Eigentum und die letzten verbliebenen Bücher.
Der Band der Provenienz Heinrich und Olga Spiero gelangte als Teil der Bibliothek des Komponisten und Hochschullehrers Ernst Pepping (1901–1981) im Jahr 1985 in den Bestand der HAB. Peppings Rolle in der NS-Zeit wird aufgrund eigener Äußerungen sowie der durch Vertreter und Organe der NS-Kulturpolitik erfahrenen Anerkennung als ambivalent eingestuft. Seine ca. 2.300 Bände umfassende Sammlung von Werken der deutschen und europäischen Literatur in historischen Ausgaben stellte Pepping eigenen Aussagen zufolge seit der Nachkriegszeit durch Ankäufe im nationalen und internationalen Auktions- und Antiquariatshandel zusammen; ein Erwerb einzelner Bände während der NS-Zeit ist nicht auszuschließen.
Das Exlibris ermöglichte eine eindeutige Zuordnung zur Privatbibliothek von Heinrich und Olga Spiero. Der NS-verfolgungsbedingte Entzug des Bandes stand nicht infrage, weshalb er an die Erbberechtigten restituiert wurde.
Warum wird der Titel dann weiterhin im OPAC angezeigt?
Die Erbengemeinschaft entschied sich nach der Restitution, den Band der HAB zu schenken.
Wir sind dankbar für dieses Vertrauen und leiten daraus die Verantwortung ab, die Geschichte der Familie Spiero in Erinnerung zu halten.
PURL: http://diglib.hab.de/?link=195