11. Mai 2022

Wenn sich die schwere Bronzetür am Eingang der Augusteerhalle öffnet, gibt sie die Sicht frei auf hoch aufragende Regalwände. Der umherschweifende Blick fällt auf historische Bücherschätze, allesamt, so scheint es, eingebunden in helles Pergament oder Leder – und doch täuscht dieser erste Eindruck. Gut verborgen lassen sich vereinzelt Bücher finden, für deren Einbände ein weitaus kostbareres Überzugsmaterial ausgewählt wurde: Seide.

Seit jeher erfreuten sich Seidengewebe in brillanten Farben großer Beliebtheit. Auf dem Webstuhl können je nach Verarbeitung der Garne die unterschiedlichsten Oberflächen wie etwa spiegelglatt glänzende Atlasgewebe oder auch weicher Seidensamt erzeugt werden. Aufgrund ihrer Materialität und herstellungsbedingten Kostbarkeit fanden solche Stoffe bereits im Mittelalter gezielt Verwendung als Einbandmaterial für besonders hochwertig ausgestattete Bücher. So wurden etwa Widmungsbände als Reverenz an die hochrangigen Empfänger*innen und als extravaganter Blickfang gerne mit edlen Materialien eingebunden. Ein glanzvoller Seideneinband, zusätzlich mit Gold- oder Silberprägung, fein ausgearbeiteten Beschlägen oder in seltenen Fällen sogar mit detaillierten (Metall-) Stickereien verziert – derlei optische Effekte kamen zum Einsatz, um der Gabe einen repräsentativen Rahmen zu geben. So lässt der hier abgebildete Widmungsband für König Matthias Corvinus von Ungarn (1442-1490) trotz der Schäden am roten Seidensamtüberzug den ursprünglichen prachtvollen Effekt des Einbands erahnen – auch dank der erhalten gebliebenen Brokatfragmente, welche von einer früheren Schließenbefestigung stammen.

Vorderdeckel mit Seideneinband
Cod. Guelf. 43 Aug. 2° Vorderdeckel
Zwei Brokatfragmente
Cod. Guelf. 43 Aug. 2° Brokatfragmente

Auch der unten abgebildete, mit blauer Atlasseide überzogene Band aus der Einbandsammlung der Herzog August Bibliothek entsprach mit seiner aufwändigen Verzierung den Ansprüchen der höfischen Repräsentation im späten 18. Jahrhundert. Das Monogramm mit den ineinander verschlungenen Buchstaben „P“ und „C“ auf dem Vorderdeckel identifiziert in Verbindung mit der darüber schwebenden Herzogskrone Philippine Charlotte von Preußen (1716–1801) als Empfängerin dieses luxuriösen Kleinods. Sie war eine Schwester Friedrichs des Großen und wurde durch ihre Heirat im Jahr 1733 mit Karl I. zur Herzogin von Braunschweig-Lüneburg sowie Fürstin von Braunschweig-Wolfenbüttel.

Auf den Anlass des Geschenkes verweist die Kombination aus Buchstaben und Zahlen auf dem Rückdeckel „D – 21 Juli 1783“, deren Sinn sich beim Lesen des Titels erschließt: Empfindungen der reinen und wahren Freude des itzigen Besitzers von Vechelde bey der fünfzigjährigen frohen und glücklichen Wiederkehr des ein und zwanzigsten Julius im Jahre 1783.

Inhalt des nur vier Blatt umfassenden Buchs ist ein Gedicht mit Lobpreisungen der Herzogin. Aber nicht nur inhaltlich, auch durch die Wahl des Schriftträgers zeigt sich das Innenleben dem prächtigen Einband ebenbürtig. Verwendung fand nämlich kein gewöhnliches Büttenpapier: Die Buchseiten wurden vor dem Druck beidseitig mit ungefärbter Seide kaschiert. Anlass für die Huldigungsschrift war der Fünfzigste Jahrestag der Ankunft Philippine Charlottes im Herzogtum Braunschweig, und der Schenkende, damaliger „Besitzer von Vechelde“ - Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg, ein Bruder Karls I. – verfasste und verehrte sie seiner Schwägerin wohl zu diesem Jubiläum.

Das kostbare und optisch so wirkungsvolle Material Seide stellt vom Standpunkt der Erhaltung eine besondere Herausforderung dar, da es deutlich empfindlicher auf Umwelteinflüsse oder auch die bloße Handhabung reagiert als andere, strapazierfähigere Bucheinbandmaterialien wie Leder oder Pergament. So verlangen die mit Seide beklebten Blätter im Buchinneren beim Umwenden das Tragen von Handschuhen, damit an den Fingern haftende Schmutzpartikel oder Handschweiß nicht auf das cremeweiße Seidengewebe übertragen werden. Im Gegensatz zu Papier, welches während der Herstellung mit einer zusätzlichen Leimung versehen wird, nimmt die offene Struktur der Seidenfasern Feuchtigkeit oder Verunreinigungen sofort auf. Ein nachträgliches Entfernen der Flecken ist so gut wie unmöglich.

Eine weitere Gefahr für Seideneinbände geht von der Belastung durch Licht aus, welches das Material ausbleicht und die Fasern brüchig werden lässt. Die unterschiedliche Farbintensität der blauen Seide auf Vorder- und Rückdeckel des hier abgebildeten Bands zeigt, welche irreversiblen Schäden durch Lichteinstrahlung verursacht werden. Aus diesem Grund erhalten alle Seiden- und Seidensamteinbände in den Beständen der HAB eine maßgefertigte Buchkassette sowie einen passgenauen Umschlag aus alterungsbeständiger Polyesterfolie. Letzterer schützt die empfindlichen Einbandmaterialien bei der Handhabung ohne die prächtig gestalteten Stickereien zu verdecken.

Ein Seidensamteinband mit Kassette und Schutzumschlag
Ein Seidensamteinband mit Kassette und Schutzumschlag

Beeindruckt von den hohen Buchregalen mit ihrer vorherrschenden Optik aus hellem Leder und Pergament können Besucher*innen der Herzog August Bibliothek diese seltenen Kostbarkeiten demnach auch auf den zweiten Blick nicht wahrnehmen, da sie in Schutzverpackungen verborgen liegen. Eine Ausnahme bietet sich im Zuge der Jubiläums-Ausstellung „Wir machen Bücher“: In der Schatzkammer zur Linken des Evangeliars Heinrichs des Löwen und Mathildes von England liegt der bereits oben erwähnte Widmungsband Cod. Guelf. 43 Aug 2°. Wer seine Aufmerksamkeit von den prächtig illuminierten Seiten lösen und auf die Kanten der Bucheinbände zu lenken vermag, wird bei beiden zumindest einen Blick auf roten Seidensamt erhaschen können.

 

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