Im Zuge der Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust und im Rahmen der Gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes sowie zuletzt der Theresienstädter Erklärung haben sich die Träger öffentlich finanzierter Gedächtnisinstitutionen der Erforschung der Provenienzen ihrer Bestände in der Zeit des Nationalsozialismus verschrieben. Mit dem abgeschlossenen Projekt, das vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gefördert wurde, hat die Herzog August Bibliothek einen ersten Beitrag zur Erfüllung dieser Verpflichtung geleistet und wesentliche Erkenntnisse über NS-verfolgungsbedingt entzogene Objekte in ihren Sammlungen gewonnen.

Im Mittelpunkt der Untersuchung standen die antiquarischen Zugänge der Bibliothek aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hierbei handelt es sich einerseits um Einzelerwerbungen und geschlossen übernommene Sammlungen älterer Literatur seit 1969; andererseits wurden gezielt die Bestandsergänzungen im Bereich der Drucke des 17. Jahrhunderts ins Auge gefasst, wie sie seit 1990 im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Sammlung Deutscher Drucke getätigt wurden. Während das Vorhandensein von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Material in den Zugängen der NS-Zeit sowie der unmittelbaren Nachkriegsjahre inzwischen gut dokumentiert ist, fehlt entsprechende Evidenz zu sog. sekundärem NS-Raubgut für spätere Erwerbungsjahrzehnte fast vollständig.

Konkret wurden im Rahmen des Projekts ca. 29.000 Bände systematisch erfasst und hinsichtlich ihrer Provenienzen überprüft. Als projektrelevant erwiesen sich 4.646 Bände (16,0 %); in 24.354 Bänden (84,0 %) fehlten dagegen entsprechende einschlägige Provenienzmerkmale. Zu 417 Objekten (1,4 %) wurden Tiefenrecherchen durchgeführt, die in bislang 37 Einzelfalldossiers dokumentiert wurden. Dabei konnten 35 Objekte aus 29 Provenienzen (0,1 %) mit der nötigen Sicherheit als NS-Raubgut oder NS-Raubgut-Verdachtsfälle eingestuft werden. In fünf Provenienzkomplexen mit insgesamt acht Bänden führten die Recherchen des Projekts zu aktuell laufenden oder bereits abgeschlossenen Restitutionsverfahren bzw. zu anderweitigen gerechten und fairen Lösungen im Sinne der Washingtoner Prinzipien. Weitere Restitutionen sollen folgen.

Alle Rechercheergebnisse wurden kontinuierlich im Bibliothekskatalog der Herzog August Bibliothek sowie im Rahmen des Verbundkatalogs K10plus dokumentiert. Als NS-Raubgut identifizierte Objekte oder solche, bei denen sich ein fundierter NS-Raubgut-Verdacht nicht sicher ausschließen ließ, wurden im Bibliothekskatalog gesondert gekennzeichnet und an die Lost Art-Datenbank gemeldet. Weitere Informationen bieten unter anderem das ProvenienzWiki des Gemeinsamen Bibliotheksverbunds und die Forschungsdatenbank Proveana des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste. Nach erfolgter Restitution und in Abstimmung mit den Rechtsnachfolger*innen werden Einzelfalldossiers zu den betroffenen Bänden und Provenienzen im Forschungsdatenrepositorium der Herzog August Bibliothek publiziert.

Vorgehensweise und spezifische Herausforderungen der NS-Raubgut-Forschung werden in der Folge „Provenienz ‒ Bücher mit Geschichte“ der Podcast-Reihe „HAB gehört“ im interdisziplinären Gespräch diskutiert. Einen Einblick in die Ergebnisse des Projekts vermittelt die virtuelle Ausstellung „Spurensuche. NS-Provenienzforschung in der Herzog August Bibliothek“ auf der Plattform Google Arts & Culture. Die Suche nach NS-Raubgut im Bestand der Herzog August Bibliothek wird im durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekt „NS-Raubgut unter den Zugängen der Herzog August Bibliothek 1933–1969“ fortgesetzt.

PURL: http://diglib.hab.de/?link=108

Finanzierung: Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
Laufzeit: Oktober 2020 – November 2022
Projektbeteiligte: Dr. Johannes Mangei (Kontakt), Christine Rüth (Bearbeiterin), Monika Biel, Antonia Reck (Wissenschaftliche Hilfskräfte)