30. Oktober 2024
Für Piscator, der als kommunistischer Regisseur im Berlin der 1920er Jahre Berühmtheit erlangt hatte, bevor er – erst von Hitler, dann von Stalin vertrieben – im New York der 1940er Jahre zum Lehrer der Hollywoodstars avanciert war, gab es keinen Zweifel: Es musste Lessings Nathan der Weise sein. Das Theater, das Piscator für die junge Bundesrepublik vorschwebte, war „Bekenntnistheater“, und die Inszenierung von Lessings Werk stellte, so Piscator, ein „Selbstbekenntnis des heutigen Deutschlands“ dar.
„Unschuld im Angesicht von Schuld“
In den frühen Nachkriegsjahren nahmen viele westdeutsche Theater Lessings Nathan der Weise als eine Art Wiedergutmachungsstück ins Programm. Piscator verfolgte eine andere Absicht. Dies geht aus einer unveröffentlichten Tagebuchnotiz hervor, in der er von einem Gespräch mit einer Marburger Jugendfreundin berichtet. Auf die Frage, „Warum wählst Du Nathan?“, gibt Piscator demnach unumwunden zur Antwort: „Weil Ihr – die Deutschen – so viele Juden umgebracht habt.“
Die Kompromisslosigkeit der Antwort erklärt sich aus den Erfahrungen, die Piscator nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik gemacht hatte. Das Kapitel der nie vollendeten Autobiografie, das von Jahren der Remigration berichten sollte, hätte den Titel „Die ,Kalte Schulter‘“ getragen. Immer wieder fällt auf den Seiten des Tagebuchs, das Piscator als Grundlage für diese Autobiografie dienen sollte, das Wort „Enttäuschung“. Einmal heißt es ausdrücklich: „Dies ist die große Enttäuschung meiner Rückkehr. Ich vermisse im deutschen Volk … die Bereitschaft zur Selbsterkenntnis.“ Andernorts die sarkastische Bemerkung: „Es gibt keine Kriegsverbrecher. Es gibt auch keine Leute, die Schuld am Judentod sind!“
Das Gespräch mit der Marburger Jugendfreundin gibt ein sprechendes Beispiel für Piscators Enttäuschung. Denn vom Judenmord wollte seine Gesprächspartnerin nichts wissen: „Was sagst Du – was haben wir getan?“ In seinem Tagebuch berichtet Piscator, wie er sich wiederholt. Ein Mal. Zwei Mal. Wie er die Zahl der von den Nazis getöteten Jüdinnen und Juden mit 6 Millionen beziffert. Die Jugendfreundin bleibt skeptisch: „Wir sollen das getan haben?“ Aber dann: „Ihre Augen werden kreisrund, groß.“ Schließlich bricht sie in Tränen aus. So fassungslos Piscator über die Unkenntnis der Freundin war – „Ist es möglich, sie wußte es nicht, wußte nichts, nichts bis zum heutigen Tag, im Jahr 1952?“ –, so ergriffen war er von ihren Tränen. In Klammern setzt Piscator in seinem Tagebuch dem Dialog folgenden Kommentar hinzu: „(Ich hätte sie küssen mögen, wie ein junges Mädchen, diese Unschuld im Angesicht der Schuld.) … Es war der Augenblick, auf den ich bei jedem Deutschen seit meiner Rückkehr gewartet hatte – und den ich hier zum ersten und bisher einzigen Male traf –.“
Durch die Inszenierung von Lessings Nathan wollte Piscator das Marburger Publikum erschüttern wie er seine Jugendfreundin mit der Nachricht vom millionenfachen Judenmord erschüttert hatte. Auch das Publikum sollte mit „Unschuld im Angesicht der Schuld“ reagieren und sich am Nathan des Holocausts unmittelbar bewusstwerden, indem es zumindest für einen Augenblick kindgleich naiv – „wie ein junges Mädchen“ – das Unbegreifliche begriff.
Marburg war, daran bestand für Piscator kein Zweifel, der richtige Ort für eine solche Nathan-Inszenierung: „Nirgends traf das Erlebnis Nathan meine Seele wie hier, in einer Stadt, in der ich selbst aufgewachsen war und die als streng antisemitisch bekannt war“, notierte Piscator in sein Tagebuch. „Einige 40 Meter vom Theater ist der Platz – heute ein Garten – zu finden, auf dem bis zum befohlenen Brand die Synagoge stand.“ Jener Garten (der heutige Garten des Gedenkens), an dem er auf seinem Weg zum Philippshaus, der improvisierten Spielstätte des Marburger Theaters, jeden Tag vorbeikam, war für Piscator ein sehr persönliches Mahnmal: Sein jüngerer Bruder Paul hatte sich 1938 während der sogenannten Reichskristallnacht an der Zerstörung der Marburger Synagoge beteiligt und war nach Kriegsende wegen Brandstiftung als Mittäter zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt worden.
„Mitten im Zuschauerraum“
Um dem Marburger Theaterpublikum den Nathan nahezubringen, entschloss sich Piscator den Bühnenraum im großen Saal des Philippshauses radikal aufzubrechen. Anstatt das Stück auf einer durch Graben und Vorhang getrennten Bühne zu inszenieren, ließ Piscator eine Bühne in der Mitte des Saals errichten und rundherum bestuhlen: „Damit ich meinen Marburgern möglichst nahe auf die Nase rücke, spiele ich den Nasan (engl. ausgespr. Nathan) mitten im Zuschauerraum“, schreibt Piscator im Mai 1952. Der ungelenk englische Zungenschlag, den Piscator Lessings Titel verlieh, war dabei nicht allein Koketterie: Die Idee, die Bühne in die Mitte des Saals zu verlegen, übernahm er vom legendären Glenn Hughes Penthouse Theatre in Seattle, Washington, wo eine solche Bühnenkonstruktion in den 1940er Jahren unter dem Stichwort „theatre in the round“ von sich Reden machte. Piscator nahm die Anregung dankbar auf: „Was lag näher, als Lessings Nathan in die Mitte der Zuschauer, ihrer Herzen und ihres Verstandes zu setzen?“, fragt Piscator in einem wenige Jahre nach der Marburger Inszenierung veröffentlichten Essay. Niemandem aus dem Publikum sollte es möglich sein, zum Bühnengeschehen Distanz aufzubauen.
Die Demontage des getrennten Bühnenraums schafft Herausforderungen für die Dramaturgie: Der Auf- und Abtritt des Ensembles musste im Marburger Philippshaus über drei Stege erfolgen, die in der Form eines Ypsilons quer durch den Zuschauraum auf die in der Mitte des Saals befindliche Spielfläche zuliefen. Das Publikum saß damit gewissermaßen auf der Bühne. Zugleich gelang es Piscator, wie er während der Probenphase in verschiedenen Briefen mitteilt, durch die konsequente Dekonstruktion der klassischen Zweiteilung in Bühnen- und Zuschauraum, „der wiederaufkommenden Reaktion und dem Antisemitismus … auf den Leib zu rücken“. Körperliche Nähe sollte das Publikum davor bewahren, das Bühnengeschehen als Illusion misszuverstehen. Es handelte sich, so Piscator, „um eine höhere Ebene der Realität“.
„7, 70, 700, 7.000, 70.000, 700.000 mal 7“
Nicht nur mit der Aufhebung des separaten Bühnenraums, sondern auch mit der Gestaltung des Bühnenbilds verfolgte Piscator das Ziel, Lessings Nathan im Marburg des Jahres 1952 Präsenz zu verschaffen. An der Raumdecke ließ er Baldachine befestigen, auf denen neben den drei Ringen aus Nathans berühmter Parabel auch der Davidstern, das Kreuz und der Halbmond zu sehen waren. Die Baldachine dienten Piscator außerdem als Projektionsflächen, die es ihm erlaubten, das Bühnengeschehen zu kommentieren und so explizit Parallelen zwischen der dramatischen Handlung des Nathan und der Geschichte der jüngeren deutschen Vergangenheit zu ziehen.
Ein Beispiel, das Piscator in seinen Notizen häufig anführte, weil es für ihn mehr als nur ein Beispiel war, illustriert diese Praxis: In der Szene, in der Nathan dem Klosterbruder von einem Pogrom in Gath (im heutigen Israel) berichtet, erscheint – genau in dem Moment, in dem Nathan erwähnt, dass unter den Getöteten „meine Frau mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich befunden“ – auf den Projektionsflächen sukzessive die Zahlenfolge: „7, 70, 700, 7.000, 70.000, 700.000 mal 7“. Der Pogrom, dem die Familie Nathans zum Opfer fiel, verweist so auf den Holocaust, in dem man, wie Piscator schreibt, „5, 6, 7 Millionen Nathane umgebracht hatte“.
Piscator insistierte, dass es sich bei seinen dramaturgischen Entscheidungen nicht um technische „Tricks“ handele, die Lessings Nathan entstellten: „Das ist nicht deutungswidrig; Lessing will es sogar. Seine Dichtung ist Belehrung.“ Aus der Reaktion des Publikums schloss Piscator, dass seine Inszenierung von Lessings Nathan ihren Effekt nicht verfehlte: „Die Wirkung war nicht äußerlich, sondern tief erschütternd. Es war ein Selbstbekenntnis des heutigen Deutschlands.“ Piscators Einschätzung lässt sich nicht mehr überprüfen, doch der Erfolg seiner Inszenierung war beachtlich: In Marburg und bei etwa zwanzig Gastspielen im Umland sahen 17.000 Menschen Piscators Nathan.
Titelbild: Plakat der Nathan-Aufführung am Marburger Schauspiel. Bild: Stadtarchiv Marburg (StadtA MR, S 11, 114)
PURL: http://diglib.hab.de/?link=198
Der Autor
Hannes Kerber ist Assistant Professor of Political Philosophy am Boston College und Mitglied im Vorstand der Lessing-Akademie in Wolfenbüttel. Sein Buch „Die Aufklärung der Aufklärung: Lessing und die Herausforderung des Christentums“ verhandelt den Fragmentenstreit neu und nimmt dabei auch „Nathan der Weise“ in den Blick.
Zu „Die Aufklärung der Aufklärung“