16.08.2023
„Mein Eindruck von der Besichtigung ist der, daß das Institut zwar nicht von glühendem Leben durchpulst ist, aber in würdiger und sachgemäßer, wenn auch etwas müder, Form verwaltet wird.“ (NLA WO, 12 Neu 13 Nr. 24911)
Es war eine verschlafene, an Gebäude und Bestand aber weitgehend unversehrte Bibliothek, aus der dem Vorstand der Museums- und Bibliotheksstiftung von Haus und Land Braunschweig, der die Herzog August Bibliothek von 1927 bis 1949 angehörte, im November des Jahres 1946 Bericht erstattet wurde. Geleitet wurde sie seit 1927 und ununterbrochen über die gesamte Zeit des Nationalsozialismus hinweg bis 1948 durch den Bibliothekar und Archivar Dr. Wilhelm Herse (1879‒1965). Mit Blick auf Personal, Etat und Bestandsentwicklung stellte sich die Herzog August Bibliothek in der Tat als kleine Bibliothek dar. Während der NS-Zeit waren in Wolfenbüttel zwischen vier und sechs Personen hauptamtlich beschäftigt; das im Verhältnis zu vergleichbaren Institutionen geringe Erwerbungsbudget betrug in den 1930er-Jahren durchschnittlich 4.000 RM, in den 1940er-Jahren zeitweise 5.000 RM. Die vollständig erhaltenen Akzessionsbücher zählen für die Jahre 1933 bis 1945 insgesamt 10.791 laufende Nummern.
Eine systematische Prüfung der Zugangsbücher sowie der ebenfalls erhaltenen Bibliotheksakten ermöglicht Einblicke in das Agieren und Funktionieren der Bibliothek im NS-Staat – und offenbart manche Merkwürdigkeit. Mehrere Einzelereignisse machen dabei deutlich, dass die Herzog August Bibliothek als vormalige Landesbibliothek des Freistaates Braunschweig trotz ihrer geringen Größe in vollem Umfang in die nationalsozialistische Bibliothekspolitik eingebunden war. So diente die Wolfenbütteler Bibliothek ab 1939 als Ziel- und Verwahrungsort politisch unerwünschter Bücher über die französische Fremdenlegion, nachdem eine Anordnung des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die Sekretierung dieser aus Schulbibliotheken der Region veranlasste. Ausweislich des Zugangsbuchs des folgenden Jahres wurden 13 dieser Publikationen in den Bestand aufgenommen; die übrigen gemeldeten, von der Herzog August Bibliothek jedoch nicht abgerufenen Exemplare sollten vernichtet werden.
Für die nach der „Machtergreifung“ ideologisch geboten erscheinende Beschaffung nationalsozialistischen Schrifttums waren allerdings keine Mittel aus dem regulären Etat vorhanden; hierfür musste eigens auf Sondermittel aus dem Dublettenfonds der Bibliothek zurückgegriffen werden. Erste Anschaffungen erfolgten im Oktober und November des Jahres 1933. Unter den ausgewählten Werken befanden sich unter anderem je zwei Publikationen des von den Nationalsozialisten als Ministerpräsident des Freistaates Braunschweig eingesetzten NSDAP-Politikers Dietrich Klagges sowie des „Reichsbauernführers“ Walther Darré. Außerdem schaffte man Werner Beumelburgs Sperrfeuer um Deutschland und etwas später auch das Buch der N.S.D.A.P. von Walter M. Espe an.
Daneben wurde der reguläre Bestandsaufbau der Bibliothek weitgehend unbeeinflusst fortgeführt. Erworben wurden überwiegend landes- und literaturgeschichtliche Publikationen, entsprechende Zeitschriften sowie allgemein gängige Nachschlage- und Fortsetzungswerke. Durch die Verquickung der beiden Erwerbungsprofile konnten sich in den Einträgen der Zugangsbücher durchaus eigenwillige Konstellationen ergeben. So wurden am 14.6.1934 in unmittelbarer Folge der neueste Band der in Wolfenbüttel zur Fortsetzung bestellten Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig und die – wiederum aus dem Dublettenfonds finanzierte und im selben Monat in Alfred Rosenbergs Nationalsozialistischen Monatsheften wohlwollend besprochene – Bibliographie über Das Schrifttum des Nationalsozialismus von Erich Unger in den Bestand eingearbeitet. Noch bis ins Jahr 1938 erreichte die Herzog August Bibliothek auch die regelmäßige Schenkung der Zeitschrift Der Morgen durch die Ortgruppe Braunschweig-Wolfenbüttel des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die entsprechend in ihrem gesamten Erscheinungsverlauf in Wolfenbüttel nachgewiesen werden kann.
Vor allem aber verzeichnen die Akzessionsbücher auch Vorgänge und Objekte, die eindeutig auf NS-Raubgut-Zusammenhänge hindeuten. So wurden am 1.11.1939 drei Fragmente hebräischer Schriftrollen bislang ungeklärter Herkunft als Geschenk der Gauleitung des NSDAP-Gaus Südhannover-Braunschweig inventarisiert (heute Cod. Guelf. 187–189 Noviss. 2°). Fünf weitere hebräische Schriftrollen, einige Ritualgegenstände sowie eine Zahl von Büchern zur jüdischen Geschichte und hebräischen Sprachlehre aus dem Eigentum der jüdischen Wolfenbütteler Gemeinde müssen sich zu diesem Zeitpunkt bereits in der Herzog August Bibliothek befunden haben. Ausweislich der Korrespondenz aus der Nachkriegszeit wurden die Stücke – wohl im Zusammenhang mit der Zerstörung der unmittelbar benachbarten Wolfenbütteler Synagoge im Zuge der Novemberpogrome 1938 – in der Bibliothek „in Verwahrung“ genommen und 1948 an einen Vertreter der wiederbegründeten Gemeinde ausgehändigt; im Zugangsverzeichnis des Jahres 1938 sind sie allerdings nicht vermerkt. In gleicher Weise wurde auch mit einer am 3.6.1943 vom Finanzamt Wolfenbüttel übernommenen historischen Lessingausgabe aus dem Besitz des nach Theresienstadt deportierten und dort umgekommenen jüdischen Wolfenbütteler Bürgers Gustav Eichengrün (1864‒1943) verfahren, die an einen Vertreter des nach Großbritannien emigrierten Enkels Eichengrüns übergeben wurde.
Die Auswertung der Zugangsbücher aus den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur sowie aus der Nachkriegszeit (ca. 14.000 laufende Nummern für die Jahre 1933 bis 1949) steht im Mittelpunkt des durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekts „NS-Raubgut unter den Zugängen der Herzog August Bibliothek 1933–1969“ (2022–2024). Einblicke in die bisherigen Ergebnisse der NS-Raubgut-Forschung an der HAB gibt die virtuelle Ausstellung „Spurensuche. NS-Provenienzforschung in der Herzog August Bibliothek“.
Die Autorin
Christine Rüth war bis Mai 2023 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Zuletzt koordinierte und bearbeitete sie das vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderte Projekt „NS-Raubgut unter den Zugängen der Herzog August Bibliothek 1933–1969“. Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung des am 12.04.2023 unter dem Titel „‚Nicht von glühendem Leben durchpulst …‘ Impressionen aus der Herzog August Bibliothek in der Zeit des Nationalsozialismus“ auf „Retour. Freier Blog für Provenienzforschende“ veröffentlichten Beitrags der Autorin.
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