Dieses transkripierte Interview ist eine Übersetzung der Podcast-Episode „Visual expressions of war“ von „HAB gehört“ dem Podcast der Herzog August Bibliothek.
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4. September 2024
Nun stellen Sie sich vielleicht die Frage: Was hat die Herzog August Bibliothek damit zu tun? Die Antwort lautet: Clifton Meador wurde mit dem diesjährigen Künstlerbuchpreis der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und der Curt Mast Jägermeister Stiftung ausgezeichnet. In seinem prämierten Projekt nutzt Meador den Dreißigjährigen Krieg als Ausgangspunkt, um die Folgen von Krieg bis in die heutige Zeit künstlerisch zu reflektieren. Lassen Sie uns herausfinden, was genau dahintersteckt.
Marie Adler (MA): Hallo, Clifton. Wie geht es dir?
Clifton Meador (CM): Mir geht es gut. Vielen Dank für die Einladung!
MA: Wie schön, dass du heute hier bist. Kannst du uns einen kurzen Überblick über dein Projekt geben und darüber, wie du auf die Idee gekommen bist, den 30-jährigen Krieg als Ausgangspunkt zu nehmen?
CM: Das ist eine komplexe Frage. Ein Großteil meiner aktuellen Arbeit konzentriert sich darauf, Archive als Grundlage für künstlerisches Schaffen zu nutzen. Ich möchte betonen, dass ich kein Historiker bin. Meine Herangehensweise besteht darin, Archivmaterial zu finden, das in irgendeiner Weise mit meiner Idee in Resonanz steht, und dieses dann als Ausgangspunkt für die kreative Produktion zu verwenden.
MA: Wie kann man sich diese "Resonanz" vorstellen? Wie fühlt sich das an?
CM: Es ist eine Art innere Verbindung, die entsteht. Historiker*innen nutzen historische Informationen, um Zusammenhänge herzustellen. Ich mache etwas Ähnliches, jedoch ohne die methodische Strenge der Wissenschaft. Für mich geht es mehr um Ausdruck, um das Erzeugen einer Stimmung oder eines Gefühls oder die Vermittlung einer Idee.
MA: Du schaust dir also die Quelle an, du liest etwas, und dann spürst du diese Resonanz. Wie sieht der kreative Prozess danach aus? Was passiert als nächstes?
CM: Oh, das ist schwer zu beschreiben, da ich sehr auf Intuition setze. Und ich glaube, Intuition funktioniert bei jedem, sogar bei Menschen, die wissenschaftlich arbeiten. Der entscheidende Punkt ist, die Intuition zu zähmen und ihr eine Form von Struktur zu geben. Die Idee der Resonanz ist für mich also ein Erkenntnismoment. Ich sehe mir alte Bilder an und bekomme eine kreative Idee, die dann zu der Erzählung oder zum Erzählbogen passt, den ich schaffen möchte.
Die Idee der Resonanz ist für mich also eine Erkenntnis. Ich sehe mir diese möglicherweise alten Bilder an und habe eine kreative Idee. Und dann scheint es, als ob es die Geschichte erzählt oder Teil des Erzählbogens ist, den ich schaffen möchte.
MA: Du bist jetzt seit fast drei Wochen hier in Wolfenbüttel. Wie hast du deinen Aufenthalt hier genutzt, um dein Projekt voranzubringen? Ich weiß, das Ziel ist es, mit den Quellen zu arbeiten, aber was bedeutet das für dich konkret? Wie sieht ein typischer Tag für dich an der HAB heute aus?
CM: Nun, ich habe mit der Durchsicht der Kataloge begonnen und ich habe einige der Bibliothekar*innen gefragt, ob es Möglichkeiten gibt, sich einen Überblick über das vorhandene Material zu verschaffen. Ich interessiere mich besonders für die visuelle Darstellung des frühneuzeitlichen Krieges. Damit habe ich angefangen. Es gibt einige großartige Bücher, die von der Bibliothek zusammengestellt wurden. Es gibt ein mehrbändiges Werk benannt nach dem Autoren Wolfgang Harms (Signaturen KA 00-0655:1; KA 00-0655:2; KA 00-0655:3 zu den Drucken aus der HAB), es ist ein Katalog deutscher Drucke, hauptsächlich aus dem 17. Jahrhundert und auf diesen Zeitraum konzentriere ich mich, weil ich mich für den Dreißigjährigen Krieg als Beispiel für den ersten medial vermittelten Krieg interessiere. Der erste Krieg, über den ausführlich in den Medien berichtet wurde.
MA: Wie wurde darüber berichtet? In Bildern?
CM: Hauptsächlich in Bildern. Solche Einzelblattdrucke bestanden aus einem Kupferstich und einem darum herum gedruckten Text. Im Rahmen meines Projekts war ich daran interessiert, zu sehen, wie diese Kupferstiche gedruckt wurden. Es handelt sich also um zwei verschiedene Druckmedien, die gleichzeitig verwendet wurden. Das war eine interessante Frage, bei der ich das physische Objekt sehen musste, um es als materielles Objekt verstehen zu können.
Aber um auf den ersten Teil deiner Frage zurückzukommen: Ich habe Kataloge gefunden, die Verzeichnisse aller Drucke im Besitz der HAB enthielten. Also bin ich diese durchgegangen und habe festgestellt, dass zwar einige der Drucke digitalisiert wurden, aber die Mehrheit nicht, weshalb ich Bestellformulare für die noch nicht digitalisierten ausgefüllt habe.
Dann habe ich hauptsächlich in der Augusta gearbeitet und die Bibliothekar*innen brachten mir jedes Mal eine Kiste voll mit alten Drucken. Ich habe immer nur mit zehn Drucken auf einmal gearbeitet. So viele konnte ich maximal verdauen. Anschließend habe ich Details fotografiert und mir angeschaut, wie sie gedruckt wurden.
MA: Was meinst du damit, dass du nur so viele verdauen konntest? Was passiert nach 10 Objekten?
CM: Mein Verstand wird irgendwie benebelt.
MA: Verstehe.
CM: Es ist viel zu verarbeiten. Ich interessiere mich besonders dafür, wie Künstler*innen winzige Details festgehalten haben.
Die digitalisierten Drucke, die man online sehen kann, geben einem einen guten Eindruck davon, worum es im jeweiligen Bild geht. Wenn es eine Allegorie gibt, kann man die Allegorie erkennen. Wenn es sich um ein berichtendes Bild handelt, kann man das sehen. Was aber nicht so gut funktioniert, sind die winzigen Details, die Künstler*innen an den Rändern einbauen. Eine meiner Forschungsfragen lautete daher: Haben die Künstler*innen versucht, kleine Erzählungen in die größeren Erzählungen einzuschleusen?
MA: Kannst du uns ein Beispiel dafür geben, wie das aussehen könnte? Was für kleine Details wären das?
CM: Ich habe mir gerade gestern etwas angesehen – es ist eine Schlachtszene, aber am Rande sieht man Menschen, die ihrem Alltag nachgehen. Und genau das hat mich interessiert:
Wie haben sie das eingebaut? Warum haben sie das eingebaut? Und wie sieht das aus?
MA: Ich verstehe. Hast du schon Antworten auf diese Fragen?
CM: Leider nicht.
MA: Wie planst du, die historischen Bestände in dein Künstlerbuch einzubeziehen?
CM: Sie werden den Kern meiner Arbeit bilden. Ich habe auch einige Fotografien von ehemaligen Schlachtfeldern gemacht, die in diesen Kupferstichen dargestellt sind. Es wird also eine Kombination aus zeitgenössischer Fotografie und der Fotografie dieser Kupferstiche sein. Und vielleicht gibt es noch ein drittes Element, das jetzt noch nicht feststeht.
MA: Das ist aufregend. Gibt es bestimmte Werke oder Dokumente, die du jetzt nennen kannst, mit denen du arbeiten wirst?
CM: Nun, das ist ein bisschen schwierig. Es gibt ein großartiges Werk, das „Theatrum Europaeum“, das ist eine Art illustrierte Zeitung aus dem 17. Jahrhundert. Es hat wirklich wunderbare Kupferstiche. Und dieser Mensch, Matthäus Merian, war ein wirklich guter Künstler, der vielleicht außerhalb dieses speziellen Bereichs nicht so anerkannt ist.
Aber die von ihm angefertigten Reportagestiche haben einen ganz besonderen Ton und erinnern mich an die Graphic Novels des 20. Jahrhunderts. Ich denke, sie stehen in einer visuellen Tradition, die bis in die Gegenwart reicht.
MA: Gibt es bestimmte historische Figuren oder Ereignisse aus dem 30-jährigen Krieg, auf die du dich in deinem Buch konzentrieren willst?
CM: Ich glaube, dass es noch etwas zu früh ist, um das detailliert zu beantworten, aber ich habe eine Antwort parat: Ich interessiere mich für die Tatsache, dass der schwedische König während einer Schlacht getötet wurde.
Gustav II. Adolph wurde in der Schlacht bei Lützen, in der Nähe von Leipzig, getötet. Ich war vor zwei Wochen dort und habe das Schlachtfeld fotografiert. Es gibt dort eine Art Denkmal in Form eines Felsens. Das haben sie dort aufgestellt, wo sein Leichnam gefunden wurde, und dahinter eine Kirche, die aber viel später erbaut wurde. Jetzt bauen sie nebenan ein Museum, das noch nicht fertig ist.
Aber das Schlachtfeld ist heute einfach ein großes Feld.
Es wurde auch eine Schlachtfeldarchäologie an diesem Ort durchgeführt, und ich glaube, der Boden ist voller Kugeln. In dieser Schlacht, die nur einen Tag andauerte, wurden mindestens 9.000 Menschen getötet, und auch der König kam dabei ums Leben. Das war übrigens im November 1632.
MA: Der König von Schweden wird also in deinem Buch vorkommen?
CM: Möglicherweise.
Er hatte eine prominente Rolle in dem Krieg.
MA: Wie du in deiner Projektskizze dargelegt hast, hatte der 30-jährige Krieg weitreichende Folgen für die politische, religiöse und soziale Landschaft Europas. Wie werden sich diese Themen in deinem Künstlerbuch widerspiegeln?
CM: Nun, ich befinde mich immer noch im Leseprozess, also ist das schwer zu sagen. Aber eine der Auswirkungen war, glaube ich, dass danach stehende Heere entstanden.
Der Westfälische Friede wirkte sich natürlich auch auf die Lage in Europa aus. Er prägte politische Formen, die lange Zeit wirkten. Ich weiß nicht, wie viel davon genau Teil des Buches sein wird.
MA: Aber es ist ein Teil des Denkprozesses, der dann zum fertigen Buch führt?
CM: Genau.
Die ganze Sache begann für mich mit dem Nachdenken über einen großen Landkrieg in Europa.
Der Krieg in der Ukraine ist der größte Landkrieg in Europa seit langem. Und er wird genauso ausgetragen wie der Erste Weltkrieg. Es gibt Schützengräben, Artilleriebeschuss, Wellen von Menschen, die in den Tod getrieben werden. Etwas an der Endlosigkeit des Krieges, die ein Thema in diesem Krieg ist, hat mich dazu gebracht, über den 30-jährigen Krieg nachzudenken und mich zu fragen, wie das war.
MA: Du hast auch die Relevanz historischer Erzählungen für die heutigen Erfahrungen und Erzählungen erwähnt. Kannst du diesen Zusammenhang noch einmal näher erläutern? Du verbindest den Krieg in der Ukraine mit dem 30-jährigen Krieg. Wo kommt das Narrativ ins Spiel?
CM: Das ist genau eines der Dinge, über die ich mir Gedanken mache. Aber die Vorstellung, dass es einen Kreislauf der Geschichte gibt, dass sich die Dinge wiederholen und dass wir scheinbar nicht vom Krieg wegkommen, ist für mich definitiv ein motivierender Impuls. Ich kann wirklich nicht verstehen, warum wir immer noch solche Kriege führen. Es ist einfach unfassbar.
Das ist Teil der Erzählung. Es ist der Versuch, diese Idee in eine bessere Form zu bringen.
MA: Du hast auch die Möglichkeit für Künstler*innen wie dich erwähnt, neben der vorherrschenden Erzählung andere Geschichten einzuführen. Tust du das? Und wenn ja, wie machst du das?
CM: Die Herausforderung bei diesem Projekt besteht darin, daraus eine Geschichte zu machen. Eine Form zu finden, die es den Rezipient*innen leicht macht, sich darauf einzulassen, in sie einzutauchen. Die Geschichte des schwedischen Königs ist eine sehr ungewöhnliche, finde ich. Die Tatsache, dass er auf dem Schlachtfeld starb - wie viele Könige sind in den letzten 400 Jahren auf dem Schlachtfeld gestorben? Nicht viele, glaube ich.
MA: Könige sind nicht diejenigen, die in den Kriegen sterben.
CM: Ja, normalerweise stehen sie in sicherer Entfernung.
MA: Welche Herausforderungen siehst du bei der Übersetzung historischer Dokumente und Bilder in ein zeitgenössisches Künstlerbuch?
CM: Nun, es wird technische Herausforderungen geben.
Ich bin daran interessiert, einen Teil davon im Intaglio zu machen, da diese Drucke selbst Intaglio sind. Das ist kein Medium, mit dem ich sehr oft arbeite.
MA: Kannst du erklären, was das ist?
CM: Das ist eine Gravur, eine Ätzung oder eine Fotogravur. Das sind alles Verfahren, die sich vom Reliefdruck unterscheiden.
Soll ich mehr ins Detail gehen?
MA: Ja, bitte. Ich wollte dich sowieso zu den Techniken und dem Material befragen, mit dem du arbeitest. Lass uns also gerne darauf eingehen.
CM: Okay. Die meisten meiner Arbeiten beginnen mit der Fotografie. Ich habe als Student eine Ausbildung zum Fotografen gemacht und ich interessierte mich dafür, wie Fotosequenzen eine Erzählung erzeugen. Ich wollte aus einer Reihe von Fotos ein künstlerisches Werk erstellen, und mein Lehrer sagte mit einem Augenzwinkern, dass es dafür eine Technologie gibt: Man nennt sie Buch. Also begann ich, Bücher zu machen, um eine praktische Struktur für eine Reihe von Fotografien zu schaffen. In diesem Zusammenhang lernte ich auch bestimmte Druckverfahren.
MA: Bist du so zum Buchkünstler geworden?
CM: Genau!
MA: Okay.
CM: Heute unterrichte ich Grafikdesign, aber ich bin auf diesem seltsamen Umweg dazu gekommen, dass ich ein Fotograf bin, der Bücher machen wollte und dann erkannt hat, dass es eine ganze Disziplin gibt, die sich damit beschäftigt. Wenn man dann über den Raum in einem Buch nachdenkt, ist das alles Teil des Grafikdesigns. Auf diese Weise bin ich in die Sache hineingerutscht. Ich musste also Druckverfahren lernen und die Offset-Lithografie war damals wahrscheinlich die beste Art, ein Foto zu reproduzieren.
Also begann ich einen Job in einer Druckerei und erlernte die Druckverfahren. Der Rest hat sich dann daraus ergeben.
MA: Und welche Techniken wirst du jetzt in deinem Buch verwenden? Eine hast du bereits erwähnt. Vielleicht kannst du diese näher beschreiben.
CM: Offset-Lithografie?
MA: Ja, genau.
CM: Die Lithografie ist ein Flachdruckverfahren, d. h. es gibt keine erhöhte Oberfläche, die Farbe aufnimmt. Auf der Druckplatte gibt es Stellen, die entweder fett- oder wasserliebend (hydrophil) sind. Man befeuchtet also zuerst die Platte und fährt dann mit einer Farbwalze darüber, und die Farbe bleibt nur an den Stellen haften, die fettliebend (lipophil) sind.
Es ist ziemlich magisch.
MA: Das klingt tatsächlich magisch.
CM: Erfunden wurde das Verfahren Ende des 18. Jahrhunderts von Alois Senefelder, einem Deutschen Erfinder und Musiker.
Die ersten Anwendungen der Lithografie waren Dinge wie der Notendruck. Denn das war ohne Metalltypen viel einfacher zu bewerkstelligen. Es wurde zuerst mit Steinen gedruckt, lithografischen Steinen, die diese Eigenschaft haben, Wasser oder Fett abzuweisen.
Man kann darauf mit einer Art Buntstift oder einem Bleistift zeichnen. Und die Markierung, die die Person auf dem Stein macht, wird direkt in den Druck übertragen. Das hat eine gewisse Aktualität und Unmittelbarkeit, die viele andere Medien nicht haben.
Diese Kupferstiche, die ich mir gerade ansehe, sind zum Beispiel sehr mühsam. Jemand muss sich mit einem Stichel hinsetzen, ihn in ein Stück Kupfer drücken, winzige Rillen in das Kupfer machen, und das dauert viele Stunden. Bei einer Lithografie hingegen kann man einfach direkt auf den Stein zeichnen.
MA: Ich wünschte, wir könnten das Buch schon sehen, aber es existiert noch nicht. Du fängst mit dem Druckprozess erst an, wenn du wieder in den USA bist, richtig?
CM: Ich habe einen digitalen Arbeitsablauf, also muss ich erst alle Dateien erstellen.
Mit diesem Teil habe ich bereits begonnen. Ich habe kleine Experimente im digitalen Bereich durchgeführt, um verschiedene Arten von Bildsprachen auszuprobieren, die ich verwenden könnte. Wenn ich wieder in den USA bin, werde ich Tests machen, um zu sehen, was ich für dieses Projekt als passend empfinde.
MA: Okay, aber alles geschieht zur gleichen Zeit. Es geht nicht darum, erst die Quellen zu studieren oder alles zu lesen und dann mit der Produktion zu beginnen. Es geschieht parallel.
CM: Ja, ich hatte vor zwei Jahren eine Ausstellung in einer Galerie mit dem Titel „Thinking Through Printing“. Und das ist so ziemlich genau das, was ich tue: Ich fange an zu drucken und denke darüber nach, wie die Bildsprache mit den Ideen, die ich habe, funktioniert.
Ich glaube, dass das materielle Objekt immer noch eine gewisse Macht in der Welt hat. Der digitale Bereich ist unglaublich nützlich für das, was ich mache, aber es ist nicht die Erfahrung, die ich machen möchte.
MA: Das ist eine gute Nachricht für eine Bibliothek mit historischen Beständen.
CM: Die Bibliotheken sind heutzutage größtenteils digital.
MA: Das ist wahr. Und ich denke, wir können das nicht vermeiden, und wir wollen es auch nicht, aber trotzdem behalten wir auch die Bücher.
CM: Und ich bin unglaublich dankbar dafür.
MA: Wie schaffst du bei deinem Projekt die Balance zwischen historischer Genauigkeit und künstlerischer Freiheit?
CM: Das ist eine schwierige Frage, denn wie ich schon sagte, bin ich kein Wissenschaftler. Ich bin also nicht an die Regeln der wissenschaftlichen Praxis gebunden. Ich bin daran interessiert, Ausdrucksformen zu schaffen. Deshalb nehme ich es manchmal mit den historischen Details nicht so genau, wenn es darum geht, eine Geschichte zu erzählen.
Vielleicht sollte ich einen Disclaimer auf meine Arbeiten schreiben. Ich versuche, keine Unwahrheiten zu vermitteln. Aber manchmal schafft man mit visuellem Material alternative Lesarten, derer man sich anfangs vielleicht nicht bewusst ist. Und diese können einen Eindruck erwecken, der streng genommen historisch nicht ganz korrekt ist.
MA: Welche persönlichen Erkenntnisse oder Veränderungen erhoffst du dir von der Arbeit an diesem Buch?
CM: Ich fürchte mich bereits sehr vor Krieg als solchem und ich denke, der Wahnsinn des Krieges bleibt für mich unerklärlich.
Aber die Art und Weise, wie über diesen Krieg von 1618 bis 1648 berichtet wurde, ist für mich sehr interessant. Ich kann schon jetzt - und ich habe diese Arbeit noch gar nicht beendet - eine Art Entwicklung erkennen, wie die Geschichte in Bildern erzählt wurde, von einer Art Erhabenheit des Krieges zu etwas immer Schrecklicheren.
Es gibt eine Serie von Grafiken eines französischen Künstlers, Jacques Callot, „Die großen Schrecken des Krieges“ (Les Grandes Misères de la guerre), die aus einer ähnlichen Zeit stammt und von den Folgen des Krieges handelt. Das berühmte Bild aus dieser Serie ist „Der Galgenbaum“ (La Pendaison). Ein Bild eines Baumes, an dem eine erschreckende Menge Leichen hängen.
MA: Du konntest also feststellen, dass die visuellen Ausdrücke zu Beginn des Krieges positiver waren als am Ende des Krieges? Ist das von der Erfahrung geprägt?
CM: Das ist es, was ich zu erkennen glaube. Eines der Dinge, auf die ich achte, ist, wie die Soldaten dargestellt wurden. Zu Anfang tragen sie diese extravaganten Hüte oder sie tragen aus irgendeinem Grund eine Rüstung, wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass Rüstung und Kugeln gut zusammenpassen, aber sie trugen eine Rüstung im Kampf.
Gegen Ende wirken sie verwahrloster, bzw. die Darstellung ist skizzenhafter.
MA: Was erhoffst du, dass die Betrachter*innen deines Künstlerbuchs über den Krieg und seine Konsequenzen erfahren oder fühlen? Oder allgemein, welche Emotionen möchtest du bei ihnen hervorrufen?
CM: Das ist so schwer zu beantworten, weil ich es noch nicht fertiggestellt habe.
Der Prozess der Herstellung wird mir helfen, mein eigenes Denken klarer werden zu lassen. Das ist ganz ähnlich wie beim Schreiben. Wenn man zum Beispiel einen Artikel schreibt, entwickelt sich das Denken während des Schreibens weiter. Mein Denken wird sich während der Erstellung dieses Buches weiterentwickeln. Ich hoffe, dass die Menschen sich mir anschließen und verstehen, dass dieser Alptraum des Krieges irgendwie beendet werden muss. Aber darüber hinaus weiß ich nicht wirklich, wohin das führen wird. Der Gedanke, dass der Dreißigjährige Krieg der erste medial vermittelte Krieg war, der erste Krieg, über den ausführlich in visuellen Medien berichtet wurde, ist für mich sehr interessant, und ich bin mir noch nicht sicher, wohin mich das führt. Eines der Dinge, die ich mir anschaute, ist die Art und Weise, wie die Zeichnungen von zerstörten Gebäuden und die Ränder einiger dieser Kupferstiche Mathew Bradys Fotografien der Ruinen von Richmond während des Amerikanischen Bürgerkriegs ähneln. Und jetzt gibt es in meinem Kopf eine Art historische Brücke zwischen den Ruinen der großen Bürgerkriege. Und in gewisser Weise denke ich, dass der 30-jährige Krieg eine Art Bürgerkrieg ist
MA: Die Herzog August Bibliothek besitzt bereits 24 deiner Bücher und wir sind gerade dabei, noch mehr zu kaufen, was mich sehr freut. Wie siehst du dein neues Werk im Kontext deines bisherigen Schaffens?
CM: Zunächst einmal bin ich sehr dankbar dafür, dass die HAB meine Arbeiten gekauft hat, und das ist auch Susanne Padberg aus Wien zu verdanken, die eine großartige Repräsentantin für meine Arbeit, aber auch für viele andere Künstler*innen ist. Sie ist eine großartige Verfechterin des Künstlerbuchs, und dafür bin ich ihr sehr dankbar.
MA: Wir auch!
CM: Aber um auf deine eigentliche Frage zurückzukommen: Die letzten Bücher, die ich gemacht habe, begannen mit Recherchen oder der Betrachtung von Archivmaterial. Wenn ich also zwei oder drei Bücher zurückdenke, enthält „Archeiropoieta“ viel Material aus der Library of Congress, insbesondere die Mathew Brady-Porträtsammlung.
Das Buch „VOC“ über die Niederländische Ostindien-Kompanie besteht vollständig aus Bildern aus einem Museum in Amsterdam, die auf eine Art halluzinogene Weise neu gemischt wurden. Und dieses Buch passt in dieses Spektrum, denke ich. Jedes Buch ist ein Werk für sich. Ich betrachte eine Sammlung von Büchern nicht als ein Gesamtwerk, weil ich an jedem sehr viel und ganz unterschiedlich arbeite. Es ist ein Forschen und Nachdenken und Testen und Experimentieren und eine Art Nachdenken über das Drucken. Die Zusammenstellung der Bücher stellen für mich also kein Gesamtwerk dar, aber in diesem Fall gibt es einen klaren roten Faden, der diese Bücher verbindet, denke ich.
MA: Das klingt alles so faszinierend. Ich glaube, ich gehe gleich in den Lesesaal und schaue sie mir alle noch einmal an.
CM: Das ist großartig. Ich danke dir.
MA: Ich danke dir vielmals. Das war Clifton Meador, unser wunderbarer Gast heute bei „Hab gehört“. Vielen Dank, Clifton, dass du dein faszinierendes Projekt mit uns geteilt hast, und nochmals herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des Künstlerbuchpreises.
CM: Vielen, vielen Dank. Ich bin der HAB sehr dankbar, dass ich hier sein darf. Es war großartig bisher.
Titelbild: Clifton Meador vor der Landesmusikakademie in Wolfenbüttel, dem Aufnahmeort von „HAB gehört“. (Foto: HAB)
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