Im Rahmen der retrospektiven Ergänzung der historischen Sammlungen erwarb die HAB das Stück im Jahr 2000 in einem Antiquariat. Die Provenienz, also die Herkunfts- und Besitzgeschichte, wurde in dem Forschungsprojekt „NS-Raubgut unter den antiquarischen Erwerbungen der Herzog August Bibliothek seit 1969“ aufgearbeitet. Vertreter der Großen National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ haben entschieden, den Band als Depositum in der HAB zu belassen, um ihn für die wissenschaftliche Benutzung vor Ort zugänglich zu halten. Ebenfalls Teil der Vereinbarung ist die Digitalisierung des Druckes.
Restitution an die Große National-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“
Schon bei der ersten Erschließung des Bandes für den Bibliothekskatalog wurde neben dem Exlibris, einem bedruckten Besitzetikett, des Aufklärers Friedrich Nicolai (1733–1811) ein deutlich lesbarer Stempel auf dem Titelblatt bemerkt, der das Stück als Eigentum der Großen National-Mutterloge ausweist. Dieser Verdacht wurde im 2020 begonnen NS-Raubgut-Projekt aufgegriffen. Nach ersten Recherchen zur Geschichte der Loge stellte sich heraus, dass der Band tatsächlich als NS-Raubgut einzustufen ist. Die Freimaurer-Großloge als ehemalige Besitzerin des Bandes wurde während der NS-Zeit verboten. Ihr gesamter Besitz wurde durch die nationalsozialistischen Machthaber eingezogen, darunter auch der in der HAB identifizierte Band. Mit den Vertretern der Großloge wurde eine gemeinsame Lösung erarbeitet, die dem historischen Entzugskontext ebenso wie der Bedeutung des Bandes für die Sammlung der HAB Rechnung trägt. Für die konstruktive und partnerschaftliche Zusammenarbeit ist die HAB der Großen National-Mutterloge sehr verbunden.
NS-Raubgut-Forschung in der Praxis
Ausgangspunkt für die Suche nach möglichem NS-Raubgut ist immer das Objekt. Provenienzmerkmale wie handschriftliche Eintragungen, Stempel oder eingeklebte Exlibris ermöglichen oftmals die Rekonstruktion der Vergangenheit eines Buches. Sobald sich ein Herkunftsmerkmal ins 20. Jahrhundert datieren lässt, ist es für die NS-Provenienzforschung relevant. An die Identifizierung von Personen und Institutionen schließen sich Recherchen zu deren Schicksalen während der Zeit des Nationalsozialismus an. Ergeben sich dabei Verdachtsmomente wie die Zugehörigkeit zu einer unter dem NS-Regime verfolgten religiösen, weltanschaulichen oder politischen Gruppe, kann die historische Detektivarbeit sehr umfangreich und tiefgehend sein. Wird ein Band als NS-Raubgut identifiziert, strebt die HAB eine „gerechte und faire Lösung“ im Sinne der „Washingtoner Prinzipien“ an. Das kann die Rückgabe entzogener Objekte bedeuten, schließt aber auch andere, individuellere Lösungsmöglichkeiten ein.
Gesellschaftliche Relevanz von NS-Raubgut-Forschung
Die Erforschung der eigenen Bestände gehört zu den Kernaufgaben von Museen, Archiven und Bibliotheken. Wenn es dabei Hinweise auf einen bislang nicht aufgearbeiteten Entzug einzelner Objekte oder ganzer Sammlungen unter der Herrschaft des NS-Regimes gibt, gewinnt dieser Auftrag an gesellschaftlicher Relevanz. Bücher mit einer individuellen Geschichte von Entziehung und Raub unter der nationalsozialistischen Diktatur sind noch heute – fast acht Jahrzehnte nach der Befreiung vom Nationalsozialismus – greifbare Zeugnisse des begangenen Unrechts.
NS-Raubgut unter den antiquarischen Erwerbungen der HAB
Das zweijährige Forschungsprojekt „NS-Raubgut unter den antiquarischen Erwerbungen der Herzog August Bibliothek seit 1969“ wurde gefördert durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste. Im Zuge der Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust (1998) und im Rahmen der Gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes (1999) haben sich die Träger öffentlich finanzierter Gedächtnisinstitutionen in besonderem Maße der Erforschung der Provenienzen ihrer Bestände in der Zeit des Nationalsozialismus verschrieben. Die NS-Raubgut-Forschung an der HAB wird derzeit im Nachfolgeprojekt „NS-Raubgut unter den Zugängen der Herzog August Bibliothek 1933–1969“, ebenfalls gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, fortgeführt.
Bild 1: Titelblatt mit Stempel aus: Johann Rudolph Glauber, Pharmacopaeae Spagyricae, Amsterdam 1668 (Foto: HAB)
Bild 2: Exlibris aus: Johann Rudolph Glauber, Pharmacopaeae Spagyricae, Amsterdam 1668 (Foto: HAB)
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