24. Juni 2020
Im Dezember 2018 begannen die Arbeiten in einem Kooperationsprojekt der Herzog August Bibliothek mit den Bodleian Libraries Oxford. Gefördert von der Polonsky Foundation werden in beiden Bibliotheken mehrere hundert mittelalterliche Handschriften aus deutschen Klosterbibliotheken digitalisiert und mit Erschließungsdaten frei verfügbar online gestellt. Das Projekt befindet sich nun auf halbem und damit auf gutem Wege zu einem außerordentlichen Ergebnis. Auf der offiziellen Projektwebseite sind von Seiten der HAB schon 84 von insgesamt etwa 200 Handschriften, darunter zwei schmuckreiche Beispiele der mittelalterlichen Buchmalerei aus der Dombibliothek Hildesheim, virtuell zu erkunden. Sie stammen aus den ehemaligen Bibliotheken von fünf norddeutschen Klöstern.
Die tatsächliche Zahl der bislang von uns digitalisierten Handschriften liegt mit 123 bereits höher. Die Digitalisate werden schrittweise an unsere Oxforder Projektkolleg*innen übermittelt und auf der Projektseite eingestellt. Mit dem aus Projektmitteln finanzierten, exzellenten Kameraequipment hat die Fotowerkstatt bis Ende März 2020 bisher insgesamt 59.323 Bilder produziert. Mit den mehr als 4.000 generierten Aufnahmen von etwa acht Handschriften jeden Monat liegen wir stets über dem veranschlagten Soll von 3.786 Bildern.
Es handelt sich neben wenigen früheren Pergamentmanuskripten hauptsächlich um spätmittelalterliche Papierhandschriften aus den Bestandsgruppen der Helmstedter, Augusteischen, Novi- und Extravagantes-Handschriften der Bibliothek. Aus Klöstern und Stiftskirchen in Hildesheim (Sülte), Helmstedt (Marienberg), Bad Gandersheim (Clus), Braunschweig (St. Blasius) und Bad Bevensen (Medingen) fanden sie den Weg in die Wolfenbütteler Bibliothek. Nachdem anfangs vor allem Handschriften aus dem Benediktinerkloster Clus mit Helmstedter Signaturen digitalisiert worden waren, sind wir mittlerweile vermehrt bei solchen aus dem Kloster Marienberg bei Helmstedt und dem Braunschweiger Kollegiatstift St. Blasius angelangt. Während zahlreiche Handschriften aus Clus im Zuge eines laufenden Katalogisierungsprojekts detailliert erschlossen werden, bedürfen die Handschriften aus Marienberg und Braunschweig, die zumeist im Fonds der Augusteer stehen, noch eingehender Erforschung. Für sie liegen bislang nur Beschreibungen vom Ende des 19. Jahrhunderts vor, die heutigen Ansprüchen nicht mehr genügen.
Von den insgesamt rund 600 für das „Polonsky“-Projekt ausgewählten Handschriften werden in der HAB rund 200 Handschriften digitalisiert. Nach deren Auswahl nimmt unsere Restaurierwerkstatt jede einzelne Handschrift genauer unter die Lupe, um zu prüfen, ob das Exemplar überhaupt digitalisierbar ist oder ob im Vorfeld etwa Stabilisierungsmaßnahmen ergriffen werden müssen, um den nötigen Öffnungswinkel der Handschrift zu ermöglichen. Das Wohl des empfindlichen historischen Kulturguts hat immer oberste Priorität und die Digitalisierung soll den empfindlichen Originalen keinesfalls Schaden zufügen. Danach beginnt die Arbeit der Fotowerkstatt, die mithilfe der Grazer Buchwiege oder des Wolfenbütteler Buchspiegels und der Kameraausrüstung nicht nur hochauflösende Aufnahmen von den einzelnen Seiten, sondern jeweils auch von den Buchdeckeln und den vier Schnitten der Handschriften erstellen. Die Dateien werden vor der Veröffentlichung in der für alle Nutzer*innen zugänglichen Online-Handschriftendatenbank mit Bild-Seiten-Konkordanzen (Seitenzahlen oder Blattnummerierungen) und Metadaten aufbereitet, um eine bestmögliche Orientierung beim Entdecken und Forschen zu erzielen. Die Metadaten liefern Informationen zum historischen und kodikologischen Kontext wie z.B. zum Format der Handschrift, zu den Maßen der Blätter, dem Schriftträger, der Sprache, dem Buchschmuck, dem Inhalt, der Schriftheimat, der Entstehungszeit und der Provenienz. Seit Herbst 2019 gibt es eine eigens für die Datenaufbereitung geschaffene Stelle und bislang wurden 123 der Handschriften in einem in den Digitalen Geisteswissenschaften gut etablierten Texteditionsprogramm in XML mit Foliierung (Zählung in Blättern, also Blatt 1 mit Vorder- und Rückseite entspricht „1r“ bzw. „1v“) und Strukturdaten bearbeitet und in der Datenbank publiziert. Die Daten sind den Handschriftenkatalogen entnommen, die teilweise im Rahmen von parallel laufenden Katalogisierungsprojekten aktualisiert und den heutigen Standards angepasst werden.
Am Ende jedes Monats tauschen die Projektmitarbeiter*innen aus Wolfenbüttel und Oxford sich über den fortschreitenden Digitalisierungsstand aus und organisieren sowohl im Frühling als auch im Herbst jedes Jahres ein Treffen, das abwechselnd in Deutschland und Großbritannien stattfindet. Aufgrund der Reise- und Kontakteinschränkungen durch die weltweite Coronakrise konnte die dritte Zusammenkunft mit allen Projektbeteiligten Anfang April 2020 in Oxford nicht vor Ort stattfinden. In einer Videokonferenz kamen die Projektpartner*innen und die Polonsky Foundation als Geldgeberin aber dennoch zusammen und konnten über den Workflow und die noch ausstehende Arbeit beraten. Nun liegen noch weitere zwölf Monate gemeinsamer Arbeit vor uns, für die wir uns einen mindestens genauso erfolgreich verlaufenden Arbeitsprozess wünschen, um für Forscher*innen und eine interessierte Öffentlichkeit einen reichen Fundus digitalisierter Handschriften aus deutschen Klosterbibliotheken in bester Qualität bereitstellen zu können.
Die Autor*innen
Irina Rau (ehemalige wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt "Handschriften aus dem deutschen Sprachraum")
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