25. März 2021

Der protestantische Theologe, Philologe und Historiker Flacius Illyricus war zweifellos eine der markantesten Gestalten der Reformationszeit. Der 1520 im kroatischen Labin geborene Flacius hatte nach einem altsprachlichen Studium bereits 1544 eine außerordentliche Professur für Hebräisch in Wittenberg erhalten. In den Auseinandersetzungen um die rechte protestantische Lehre, die nach Luthers Tod ausbrachen, vertrat der Gelehrte im Gegensatz zu seinem akademischen Lehrer Philipp Melanchthon häufig extreme Positionen, die er mit unnachgiebiger Härte verteidigte. Daher musste er 1549 Wittenberg verlassen und verlor 1561 auch seinen zweiten Lehrstuhl in Jena. Mit dem Großteil der protestantischen Führungselite zerstritten, verbrachte Flacius den Rest seines Lebens in verschiedenen Städten, darunter Magdeburg und Frankfurt am Main, wo er im März 1575 starb.

Während seine zahlreichen Streitschriften und Werke zur Bibelauslegung allenfalls von historischem Interesse sind, ist seine Bedeutung als Begründer der protestantischen Kirchengeschichte nach wie vor unumstritten. Flacius versuchte zu beweisen, dass die von den römischen Päpsten beherrschte Kirche seit dem Urchristentum in einem unaufhörlichen Niedergang begriffen war, den erst die lutherische Reformation beendet hatte. Deshalb durchsuchte er mit Hilfe eines europaweit tätigen Gelehrtennetzwerkes die Klosterbibliotheken nach passenden Texten, die er in seinem Catalogus testium veritatis (Katalog der Wahrheitszeugen) bekannt machte und für das große Geschichtswerk der Magdeburger Centurien (1559–1574) verwenden ließ. Dabei eilte ihm sein zweifelhafter Ruf als unversöhnlicher Theologe voraus, der auch sein Ansehen als Quellensammler deutlich schmälerte.

Bereits Zeitgenossen war Flacius als Bücherdieb und Bücherfledderer verdächtig, der mit einer Mönchskutte verkleidet in die Klosterbibliotheken geschlichen sei und dort ganze Handschriften entwendet oder mit einem versteckten Messer die ihn interessierenden Teile heimlich herausgeschnitten habe. Diese auch von Herzog Julius kolportierte Geschichte wird in der Forschung kontrovers diskutiert.

Allerdings wurde bisher der methodisch nächstliegende Weg nicht beschritten – nämlich zu prüfen, ob sich unter den fast 1.000 Bänden, Handschriften und Drucken, die 1597 aus dem Flacius-Nachlass in die Wolfenbütteler Hofbibliothek kamen, herausgetrennte oder fragmentarische Stücke befinden. Diese Möglichkeit eröffnen jetzt zwei an der HAB angesiedelte und von der DFG geförderte Projekte: Die seit 2001 laufende Neukatalogisierung der mittelalterlichen Helmstedter Handschriften und die 2020 begonnene Digitalisierung der Codices aus dem Besitz von Flacius.

Bislang sind fast zwei Drittel der flacianischen Handschriften gemäß den Katalogisierungsrichtlinien der DFG neu erschlossen worden – mit einem eindeutigen Ergebnis: Mehrere Bände haben sich als nachträgliche, von Flacius selbst angelegte Synthesen von nicht zusammenpassenden Fragmenten erwiesen, darunter Cod. Guelf. 367 Helmst. mit insgesamt neun Teilen, die aus Nord- und Süddeutschland, Norditalien, Böhmen und Frankreich stammen. Im Nürnberger Schottenkloster St. Ägidien erwarb Flacius 1554 mit Cod. Guelf. 277 Helmst. und 279 Helmst. zwei vollständige Handschriften. Erst jetzt stellte sich heraus, dass er dort aus einem weiteren Codex die Blätter 132–174 herausgetrennt und ebenfalls an sich genommen hatte (Cod. Guelf. 299.1 Helmst., Abb. 1); wo sich die Reste dieses Buches heute befinden, ist unbekannt.

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Theodorus de Lellis: Replica contra Gregorium Heimburg. Textbeginn mit der originalen Foliierung aus dem Nürnberger Schottenkloster (139) und der aktuellen Blattzählung (Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 299.1 Helmst., fol. 10r, 1460–1475)

In welchem Ausmaß Flacius solche Ausschnitte gesammelt hat, zeigt anschaulich der 1613/14 von Liborius Otho angefertigte Katalog der Wolfenbütteler Hofbibliothek. Darin verzeichnete Otho mehr als 50 Fragmente kirchengeschichtlichen Inhalts, die mit Sicherheit von Flacius stammen. Viele dieser Stücke, zum Beispiel die als Z 81 gekennzeichnete schottische Chronik (Abb. 2), sind jedoch in der HAB nicht mehr auffindbar.

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Liborius Otho, Gesamtkatalog der Wolfenbütteler Hofbibliothek, Signaturgruppe PAPALIA MISCELLANEA mit dem Eintrag "Chronicon Galliae et Scoticum … in membranis manuscriptum" unter Nr. Z 81 (Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. A Extrav., p. 303, 1613/1614)

Recherchen haben ergeben, dass sie mit dem Nachlass des Helmstedter Gelehrten Hermann von der Hardt 1786 in die Markgräflich Badische Hofbibliothek nach Karlsruhe gelangten. Dazu gehört auch die von Otho genannte Chronicle of Holyrood (Karlsruhe, BLB, Cod. K 345), die der Historiker Marcus Wagner 1553 im Auftrag von Flacius in der schottischen Zisterzienserabtei Coupar Angus an sich gebracht hatte – ob mit oder ohne Einverständnis des Vorbesitzers, ist unbekannt.

Die detektivische Kleinarbeit des Erschließungsprojekts hat zahlreiche Beweise erbracht, die Flacius eindeutig als Bücherdieb überführen; dass die Spuren seiner unrühmlichen Tätigkeit in Wolfenbüttel und in Karlsruhe zu finden sind, ist ein weiteres Ergebnis. Schließlich hat sich gezeigt, dass Flacius oder seine Beauftragten auch als ganz offizielle Bibliotheksbenutzer nicht immer legale Wege beschritten haben: Der in Wien aufbewahrte Leihschein für die Handschrift Cod. Guelf 313 Helmst. aus dem Benediktinerkloster Melk in Österreich ist auf den 7. September 1552 datiert und damit längst abgelaufen…

 

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© Abbildung: Bildnis des Matthias Flacius Illyricus. Holzschnitt von Tobias Stimmer und Christoph Murer, nach 1719. Germanisches Nationalmuseum,  Nürnberg. Die Inschrift lautet:

Matthaeus Flacius Illyricus Theol.
cultellus Flacii, Bibliothecis
suspectus ut et Wagenseilii

Ein Sclav geborn von Albon,
viel Stritt in Sachen Religion
Zwider Interim, und Willen frey
Erbsünd gefällt mir, waß wesentlich sey

Stirbt: 1575


Der Autor

Bertram Lesser war von Januar 2008 bis März 2023 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Handschriften und Sondersammlungen“ der HAB im Projekt „Neukatalogisierung der mittelalterlichen Helmstedter Handschriften“ beschäftigt. Seit April 2023 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat Abendländische Handschriften in der Abteilung „Handschriften und Historische Drucke“ der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz tätig.

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