04. Dezember 2019
Die Buchkünstlerin Odine Lang hinterfragt in ihrer Arbeit mit papierenen, sowie pflanzlichen Blättern immer wieder die Grenzen des Mediums Buch. Dies spiegelt sich auch in den Objekten Closure, Zachte Vleughel, Einblattbuch No° 4 Alchemilla und Einblattbuch No° 14 Dryopteris wider, die die HAB kürzlich erworben hat.
Zachte Vleughel
So enthält beispielweise das Werk "Zachte Vleughel" (s. Abb. oben) durchaus Text – allerdings auf eine besondere Art und Weise. Der Titel (zu Deutsch: „Sanfter Flügel“) ist die niederländische Übersetzung eines Schillerzitats aus der Ode an die Freude: „(Alle Menschen werden Brüder,) wo dein sanfter Flügel weilt“. Wir haben die Künstlerin gefragt, welche Geschichte hinter diesem Titel steht.
Odine Lang:
„Ich fahre einmal im Jahr zu einem Künstlertreffen an der nordfranzösischen Küste. Da gibt es eine große Strandmauer, die den Fischerort schützt. Und an diese Betonmauer habe ich in verschiedenen europäischen Sprachen das Zitat aus der Ode an die Freude geschrieben – aber nicht in normalen Buchstaben, sondern ich habe eine Art Geheimschrift-Alphabet benutzt, das ich aus den Formen des Tintenfischschulps entwickelt habe. Die Tintenfischknochen, die man dort am Strand finden kann, waren der Ausgangspunkt für 26 Formvarianten, die ich den Buchstaben des Alphabets zugeordnet habe. Jetzt kann ich mit diesen Formen Texte schreiben, die – wenn man den Code nicht kennt – natürlich zunächst einmal bloße Chiffren sind. Ich habe aber am Strand einen Alphabet-Bogen verteilt, und die Strandbesucher konnten den Text dann Buchstabe für Buchstabe selbst entschlüsseln … „Wo dein sanfter Flügel weilt“, oder „Là où tes douces ailes reposent“, oder eben den englischen oder den niederländischen Text. Darüber sind wir ins Gespräch gekommen – über europäische Freundschaft, den europäischen Gedanken, ganz aktuelle Themen … Das war berührend. Parallel zu dieser Außenrauminstallation sind die Bücher entstanden. Die Flügel dienen hier als Einband, und der Text ist auf ein Schriftband im Inneren gestempelt. Die Flügel schützen den Inhalt.
Es gibt verschiedene Versionen auf Niederländisch, Englisch und Deutsch, die sich jeweils ein bisschen darin unterscheiden, wie stark die Deckel gewölbt sind, oder aus welchem Material das Papierband ist … Ich wollte das variieren und kleine Unterschiede machen … regionale Länderunterschiede. Aber im Prinzip sind sie doch alle gleich. Ich finde es schön, dass nun die niederländische Version angekauft wurde. Wenn man hier in der Bibliothek die Fremdsprachen-Version vorliegen hat, ist es sofort einleuchtend, dass es davon mehrere Versionen geben kann. Da wird das Verbindende noch deutlicher und der europäische Gedanke schwingt mit. Ich werde der Bibliothek auch noch ein Blatt zum Dechiffrieren geben. Damit können dann alle den Text entschlüsseln.“
Einblatt-Bücher
Typische Merkmale der Buchform tragen auch die Einblattbücher No° 4 Alchemilla, und No° 14 Dryopteris. Hier sind auf gefalteten Papierblättern Laubblätter dargestellt – Dryopteris ist der Wurmfarn und Alchemilla ist der lateinische Name des Frauenmantels.
Odine Lang:
„An der Reihe der Einblatt-Bücher arbeite ich seit zwei Jahren. Der Titel spielt mit dem Begriff der „Einblattdrucke“, aus der frühen Neuzeit, die es auch in der Sammlung der HAB gibt. Meine „Einblatt-Bücher“ enthalten tatsächlich Drucke auf einem Blatt, aber gleichzeitig spiele ich wieder mit der Buchform: Es gibt einen Einband und ein Titelschildchen. Jedes „Einblatt-Buch“ existiert in einer kleinen Auflage mit jeweils zehn Exemplaren mit Kaffeelavierung und zehn Exemplaren mit reiner Linienzeichnung.
Die Zeichnungen sind sehr detailliert, ich zeichne nicht das Idealschema eines Blattes, sondern wirklich das individuelle Blatt, das ich vor mir liegen habe. Und wenn das Blatt eine Fraßstelle hat, dann zeichne ich es auch mit der Fraßstelle. Ich beschönige nichts.
In den letzten 15 Jahren habe ich sehr viele Modelle von verschiedenen Faltungen, Heftungen und Bindungen gesammelt, die ich z.B. auch in meinen Kursen an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung einsetze. Da habe ich ein großes Repertoire und kann aus dem Vollen schöpfen. Wenn ich für die „Einblatt-Bücher“ ein neues Motiv, ein neues Pflanzenblatt finde und mir dazu eine neue Papierform einfällt, wird die Buchreihe fortgesetzt. Ich suche dabei immer nach Verbindungen zwischen der Buchbindung, bzw. Faltung und der Wuchsform eines Blattes. Die Faltung soll den Charakter des Laubblattes unterstreichen. Auch das Blatt des Frauenmantels faltet sich ähnlich wie das Buch auf, in einer Art Zickzack-Falz, wie plissiert. Das Einblattbuch No° 14 Dryopteris hat der Wuchsform entsprechend einen Wickelfalz, den man immer weiter aufklappt, bis man dann den Farnwedel in seiner ganzen Länge sehen kann.“
Closure
Auch Closure (s. Galerie) changiert zwischen Buch und Papierobjekt und wie bei Zachte Vleughel ist auch hier ein zu schützendes Inneres von außenliegenden Klappen umschlossen, wie der Inhalt eines Buches von seinen Deckeln. Das Objekt strahlt Geborgenheit aus.
Odine Lang:
„Bei Schalenformen in der Natur, Muscheln, Knospen- oder Samen-Formen, wird durch außenliegende „Klappen“ das Innere beschützt. Diese Parallele zum Buch hat mich gereizt und deswegen habe ich hier eine Buchbindetechnik für Einzelseiten angewendet, um Schalenpaare zu verknüpfen. Wie bei einem Buch kann man Closure Seite für Seite durchblättern … man kann es komplett aufschlagen, man kann es geschlossen halten … man kann es nur nicht ins Regal stellen, weil es nicht rechteckig ist.“
Odine Langs Ausstellung Folia endete am 13. Oktober. Aufgrund des großen Anklangs ist aber die Installation „Wolfsmilch“ noch bis Ende dieses Jahres in der Augusteerhalle zu besichtigen.
Odine Lang:
„Wolfsmilch“ ist das Portrait einer ganz bestimmten individuellen Pflanze, die ich im Urlaub in Südfrankreich gesehen, gezeichnet und gepresst habe. Ich hatte gleich die Idee, sie im Großformat als Papierobjekt nachzubauen, weil mich die Geometrie so fasziniert hat.
Das Gewächs ist tatsächlich ganz regelmäßig aufgebaut: Es hat an der Stelle der untersten Verzweigung drei Blätter, darüber bei der nächsten Verzweigung jeweils zwei Blätter, dann nochmal jeweils zwei … immer wieder … ganz regelmäßig aufgeteilt. Diese Symmetrie, die da tatsächlich in diesem einzelnen Pflanzenexemplar abzulesen war, hat mich einfach gepackt. Und als ich dann die Möglichkeit hatte, die Ausstellung „Folia“ zu machen, war mir sofort klar: Das muss hier her. Das passt. Das passt in diesen Raum … das Material Papier, die Größe, die ich mir vorgestellt hatte, die Geometrie, die Aufteilung mit den großen Blättern unten und den kleinen Blättern oben, die der Anordnung der Bücher in der Halle entspricht, die Bezüge zu dem, was die Bibliothek an Systematik bedeutet und wie sich das in der Pflanze widerspiegelt … Für mich ist es immer wichtig, dass es diese Ebenen gibt: Dass man ohne Vorwissen auf das Werk gucken kann und denken kann: „Das sieht gut aus … das sieht schön aus.“ oder „Das erinnert mich an irgendwas …“ und dass es dann aber immer auch noch eine weitere, intellektuelle Ebene gibt, wie hier die Bezüge zur Sammlungssystematik und zur Geschichte des Hauses. Da kann man einsteigen, muss aber nicht. Dadurch geht es um mehr als Dekoration, und es ist für Wissenschaftler genauso zugänglich wie für alle anderen Bibliotheksbesucher.“